Bin ich systemrelevant?

Wir lernen in diesen Tagen jede Menge neuer Vokabeln, zum Beispiel Pandemie, Inzidenz, lockdown und: systemrelevant.

2008 waren das die großen Banken – relevant fürs Finanzsystem.
Heute sind es Ärzte, Krankenschwestern, Supermarktverkäuferinnen, LKW-Fahrer und diverse andere Alltagsheldinnen und -helden. Menschen, die in „normalen“ Zeiten einfach so da sind, ihren Job tun, kaum besondere Aufmerksamkeit bekommen – und oft auch keinen besonderen Lohn. Aber relevant für die Gesellschaft, dafür dass „der Laden überhaupt läuft“.

Alle anderen, die keinen der aktuell so „gefeierten“ Berufe haben, könnten (und sollten vielleicht) sich nun mal fragen: Und ich? Wird das was ich tue überhaupt wirklich gebraucht? Und wofür eigentlich?

Der Fachkräfte-Mangel ist schon länger ein Problem in Deutschland, dafür brauchte es Corona nicht. Doch nun tritt noch deutlicher zutage, dass an ganz wichtigen Stellen zu wenige ganz wichtige Leute da sind. Weniger Menschen sind wir nicht geworden in den letzten Jahrzehnten in Deutschland, daran kann´s also nicht liegen. OK, viele scheiden altersbedingt jährlich aus dem Berufsleben aus. Auf der anderen Seite werden in vielen Wirtschaftsbereichen inzwischen weniger Menschen gebraucht – durch Rationalisierung und neuerdings durch die „Digitalisierung“. Blieben also genug Leute übrig, die sich in den diesen wichtigen „systemrelevanten“ Jobs betätigen könnten.

Wollten Kinder früher Lokführer, Lehrerin, Krankenpfleger/in oder Polizist werden, so sind die Vorstellungen heute allerdings andere: „Youtuberin“, „Fußballprofi“, „Popstar“, „irgendwas mit Medien“ oder ein Startup gründen. Hmm, systemrelevant?

Die klassischen, aktuell gerade wieder als enorm wichtig (wieder-)erkannten Tätigkeiten, Fähigkeiten und Fertigkeiten waren und sind nicht attraktiv genug. Geld verdienen lässt sich woanders leichter und schneller. Und bringen auch mehr „fame“. Wie bekommen wir es also hin, dass die systemrelevanten Tätigkeiten auch entsprechend ihrer Wertigkeit entlohnt und gewürdigt werden?

Und wie würde es in Deutschland aussehen, wenn die vor einiger Zeit der Schule entwachsenen Blogger oder Youtuber, Marketingberaterinnen oder Sales Manager in der Zeit in der sie sonst bloggten, Videos schnitten oder „managten“, sich stattdessen hätten ausbilden lassen zu Sanitätshelfern, Krankenpflegerinnen usw. Überhaupt: Wenn wir allesamt davon mehr verstünden, sozusagen als „Grundausbildung zum Leben und Überleben“. Der gerade verstorbene Rüdiger Nehberg hat auf extreme Weise vorgemacht, wie man leben und überleben kann – wenn man weiß wie.

Braucht es ggf. ein Pflichtjahr für alle, in dem gesellschaftlich wichtige („systemrelevante“) Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernt werden? Ja, ich weiß: Das klingt nach DDR, nach Nazizeit und chinesischen Drillmethoden. Es ist politisch umstritten. Und dennoch: Wie viel kollektive Solidarität braucht ein Land als ständige Reserve für Krisenzeiten und auch außerhalb dieser?

Ganz wichtig: Ich möchte dies hier nur als Debattenbeitrag verstehen, das ist noch keine abschließende Wertung. Einen kleinen Diskurs, der weitere Aspekte berücksichtigt, gab es dazu im August 2018 bei tagesschau.de.


Zum Abschluss noch ein kleiner gedanklicher Ausflug: Überlege mal, was Du bei Dir zu Hause als „systemrelevant“ einstufen würdest. Was sind also die Dinge, ohne die es echt nicht gehen würde. Katastrophe! Und dann schau mal hin, wer genau das zuhause macht:

  • Klo putzen
  • Müll runterbringen
  • Essen für die ganze Familie kochen
  • Geschirrspüler ausräumen
  • Wäsche waschen
  • Computer und WLAN für alle am Laufen halten

Hurra, ICH bin systemrelevant!